Das Urteil des Obersten Gerichtshof der USA hat weltweit Protest ausgelöst, auch in der Schweiz. Warum eigentlich? Die Fristenlösung ist bei uns nach einem jahrzehntelangen Kampf mehrerer Frauengenerationen seit 20 Jahren solide gesetzlich verankert. Mehrere Initiative dagegen aus rechtskonservativen Kreisen, haben daran nichts ändern können.
Doch der Entscheid des Obersten US-Gerichtes hat eine brutale Sprengkraft in vielerlei Hinsicht. Das Urteil ist ein infamer Eingriff in die körperliche und psychische Integrität von Frauen, ein Angriff auf ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Würde, denn es degradiert den weiblichen Körper zur Gebärmaschine.
Dass es dabei nur vordergründig um den Schutz von Leben geht, hat dasselbe Gericht mit seinem Urteil gegen das New Yorker Waffengesetz selbst demonstriert. Es gewichtet das Recht auf Waffen höher als den Schutz von Schulkindern davor, getötet zu werden. Ja, so verlogen und zynisch können auch Richter sein.
Ein Verbot hat weder früher noch heute je eine Abtreibung verhindert. Frauen, die sich dazu entschliessen, haben Gründe, die so stark sind, dass kein Verbot sie daran hindern wird. Der Unterschied ist einfach, dass man sie bei einem Verbot in «Hinterhof-Behandlungen» zwingt, die ihre Gesundheit ruinieren, wenn sie denn die Prozedur überleben.
Warum also dieser erbitterte Kampf gegen die Abtreibung? Es ist eine brutale Stellvertreterschlacht, in der es um Religion, Macht und Kontrolle geht, nicht um das ungeborene Leben.
Das hat der erzkatholische und stockreaktionäre Richter Clarence Thomas klar gemacht, als er die weiteren Schritte auf dem Weg zu einem autoritären Gottesstaat verkündet hat: Als nächstes soll das Recht auf Verhütung, auf die Ehe für alle und auf Homosexualität vom Obersten Gericht angegriffen werden. Seine Frau ist nicht zufällig Aktivistin im Trump-Club. Dabei sind sich die katholischen und evangelikalen Fundamentalisten mit den unterdessen rechtsradikalen Republikanern einig, denn es geht um die totale Macht.
Texas ist Vorreiter dieser Brutalo-Strategie: Abtreibungen sind verboten und alle Bürger erhalten eine finanzielle Entschädigung, wenn sie Ärztinnen, Verkäufer von der «Pille danach», Spitäler oder Pharmafirmen, die Hilfe vermitteln, denunzieren. Die Behörden dürfen auf Kreditkarten, Telefonlisten etc. von Frauen zugreifen, um nachzuweisen, ob sie in einem anderen Bundesstaat medizinische Unterstützung für eine Abtreibung erhalten haben. Kontrolle total.
Dieser Angriff auf Frauen ist eingebettet in seit Jahrzehnten geknüpfte Netzwerke rechtsextremer und rassistischer Organisationen, die alle bestens vernetzt sind, finanziert von milliardenschweren rechten Stiftungen, Thinktanks, Medienplattformen und der republikanischen Partei. Sie alle gehen seit dem Sturm aufs Capitol aufs Ganze, um aus der US-Demokratie eine autoritäre, protofaschistische «Demokratie» zu machen. Es gibt da zwar noch Wahlen, doch die Gewinner höhlen systematisch die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat aus, Justiz und Medien werden gleichgeschaltet. Die regierende Partei hat die totale Macht. Die Opposition gilt als Landesverräterin. Die Strategie: keine Kompromisse und maximale Polarisierung. Dafür ist das Thema Abtreibung das ideale Feld.
Darum aufgepasst: Auch in der Schweiz sind reaktionäre Kräfte wieder am Planen von zwei Initiativen zur Einschränkung der Fristenlösung.
Die Abtreibungsfrage zeigt aber auch, dass es nicht nur gefühlte, sondern auch zwei biologische Geschlechter gibt. Schwanger werden können immer noch nur biologische Frauen. Die in den USA von Progressiven erbittert geführten Kämpfe um die Definitionsmacht von Identitätspolitik und die Cancel- Attacken sind dabei kontraproduktiv. Wenn die heute rechtsradikalen Republikaner durchmarschieren, dann können alle Progressiven – egal welcher Identität – einpacken.
Erschienen in der BaZ vom 08.07.22