Die Zuwanderung: das Perpetuum mobile der Schweizer Politik

Man merkt immer mehr, dass im Herbst eidgenössische Wahlen sind. Die Debatte um die Zuwanderung wird auf allen Kanälen geführt. Die Ausgangslage ist ideal: Letztes Jahr sind ca. 80'000 Menschen in die Schweiz gekommen und die Wohnungsnot in den Städten nimmt zu. Ein Steilpass für das Kernthema der SVP, das muss man neidlos anerkennen.

Diesmal verbindet die Rechtspartei das Zuwanderungsthema ganz zeitgeistig mit dem Umweltschutz. Ihre Einwanderungsstopp-Initiative heisst nun Nachhaltigkeits-Initiative.  Dass die SVP gleichzeitig gegen das Klimaschutzgesetz das Referendum ergriffen hat, ist nur einer der Widersprüche dieser Partei. Ihre Lösung heisst wie immer: Verhandlungen mit der EU zur Einschränkung der Personenfreizügigkeit führen – im Wissen darum, dass die EU dazu nicht bereit ist. So ist die Zuwanderungsdebatte das perpetuum mobile der SVP-Symbolpolitik. Man bringt keine Lösungen zur Bremsung der Zuwanderung und kann das Thema damit ewig bewirtschaften. Den Anfang machte in den 1970er Jahren die Schwarzenbach-Initiative gegen die italienischen Gastarbeiter.

 

Aber warum ist die Zuwanderung wieder höher? Ganz einfach, weil die Wirtschaft brummt und wir einen grossen Fachkräftemangel haben. Die kleine Schweiz gehört zu den Top-20 Volkswirtschaften der Welt. Sie hat im Vergleich zur Einwohnerzahl eine enorm grosse Wirtschaft. Ihr Geschäftsmodell war und ist hauptsächlich auf den Export ausgerichtet. Der Binnenmarkt ist viel zu klein, um den hohen Wohlstand im Land zu ermöglichen.

In den letzten 20 Jahren wurden, unter gütiger Mithilfe der SVP, drei Mal die Unternehmenssteuern gesenkt, damit die Schweiz im internationalen Standortwettbewerb gewinnen kann. Und das mit Erfolg: Dutzende internationale Konzerne haben sich in der Schweiz angesiedelt, mit einem grossen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften. Wer also die Zuwanderung nachhaltig bremsen will, sollte die Steuern für Konzerne erhöhen. Diese bringen der Schweiz zwar viel Wohlstand, aber eben auch sehr viele Menschen, die dort arbeiten.  Doch das will die bürgerliche Schweiz um keinen Preis. Dazu verbrüdern sich die Wirtschaftsverbände lieber mit dem Bauernverband, obwohl der gegen alle Freihandelsabkommen ist, wenn diese den Agrarschutz der Schweiz gefährden könnten.

 

Der grosse Fachkräftemangel in der Schweiz ist auch darauf zurückzuführen, dass die Berufslehre mit ihren weiterqualifizierenden höheren Fachschulen an Attraktivität verloren hat. Um diese aufzuwerten, hat der Nationalrat entschieden, den höheren Berufsausbildungen den international gebräuchlichen «Professional Bachelor» als Abschlusstitel zu verleihen. Dagegen hat sich der Dachverband der Hochschulen, Swiss Universities, massiv und im Ständerat erfolgreich gewehrt, weil er ‘seine’ akademischen Titel bedroht sah. Dieser akademische Dünkel wird den Fachkräftemangel verstärken und damit auch wieder die Zuwanderung. Gerade für die praktische Umsetzung der Energiewende brauchen wir dringend Berufsleute mit tertiärer Weiterbildung.

 

Bleiben noch die gut ausgebildeten Frauen, die ja mehrheitlich erwerbstätig sind, allerdings in eher kleinen Pensen. Sie sollen den Beschäftigungsgrad erhöhen, das ist die Forderung der Stunde. Doch auch Mütter können rechnen. Wenn sie die Kita-Kosten und die höhere Steuerprogression beim Zweiteinkommen zusammenrechnen, bleibt wenig vom zusätzlichen Lohn übrig. Dazu bräuchte es günstige Kita’s und die Individualbesteuerung, sonst lohnt sich der Aufwand kaum.  Doch die konservative Schweiz ist da strikt dagegen. Insbesondere die SVP verteidigt verbissen das traditionelle Familienmodell.

Man kann es drehen und wenden, wie man will: die hohe Zuwanderung ist hausgemacht. Am meisten freuen darf sich darüber die SVP. Denn so wird sich das perpetuum mobile der Schweizer Politik, die Zuwanderungsdebatte, noch lange munter weiterdrehen lassen.

 

Erschienen in der BaZ vom 17.03.23

Schweizer Waffen und Munition in die Ukraine?

Am 24. Februar jährt sich der Überfall Putins auf die Ukraine. Das Leben der Menschen dort ist ein Horror. Es drückt mir das Herz zu, wenn ich das fortgesetzte Grauen sehe. Ich habe mich mein halbes Leben lang für Frieden und Abrüstung engagiert. Aber jetzt?

Auf Bundesebene läuft zurzeit ein politisches Tauziehen um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Schweiz zulassen soll, dass Länder, die hier Waffen und Munition gekauft haben, diese nicht doch an die Ukraine liefern dürfen. Bis jetzt hat der Bundesrat die Anfragen von Deutschland, Dänemark und Spanien abgelehnt.

 

Putin führt einen direkten Krieg gegen die Zivilbevölkerung, indem er systematisch zivile Infrastrukturen bombardieren lässt. Ziel ist, dass die Menschen ihre Wohnungen verlieren, frieren, im Dunkeln sitzen und hungern müssen. Dabei ist humanitäre Hilfe sehr wichtig, entscheidend ist aber auch, dass die Ukraine ihr Territorium militärisch verteidigen kann. Dazu braucht es nun mal Waffen und Munition. Gerade diese fehlt immer mehr. Unsere «guten Dienste» brauchen zwei Seiten, die Friedensverhandlungen wollen. Doch Putin will die Ukraine zerstören, koste es, was es wolle.

In einer Umfrage vom Januar befürworten 55% der Schweizer Bevölkerung die Weitergabe von Schweizer Waffen, die von europäischen Ländern gekauft wurden. Doch unsere «bewaffnete Neutralität» verbiete einseitige Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Stimmt das wirklich?

 

Ein Blick zurück zeigt, dass die Neutralität vom Bundesrat oft sehr flexibel interpretiert wurde. Im 2. Weltkrieg lieferte die Schweiz nicht nur Waffen an die Nazis, sondern gab ihnen  auch noch staatliche Kredite zur Finanzierung des Krieges und organisierte den Rohstoff-Transport von Deutschland durch den Gotthard nach Italien.  Wenn man von Feinden umzingelt ist, dann ist Flexibilität nachvollziehbar. Den Preis dafür zahlte die Schweiz nach dem Krieg. Mehr als 400 Millionen Franken verlangte die USA als Abfindung für diese ‘Flexibilität’, damals ein Riesenbetrag.

Wenige Jahre später zwang Washington im kalten Krieg dem Bundesrat einen Geheimvertag (damit der Bundesrat das Gesicht wahren konnte) auf, der die Schweiz verpflichtete, das Technologie-Embargo gegen die Sowjetunion einzuhalten. Er galt bis 1993. Auch der vor drei Jahren aufgeflogene Crypto-Skandal, bei dem Chiffriergeräte in der Schweiz produziert und in alle Welt verkauft wurden, auf die der der CIA Zugriff hatte, war alles andere als neutralitätskompatibel. Kurz: die Schweiz hat ihre Neutralität immer flexibel interpretiert, darum war sie auch so erfolgreich.

Kann die Schweiz neutral bleiben, wenn wir sehen, wie die Ukraine zerbombt wird? Das würde heissen, indirekt unterstützten wir Russland.  Neutralität wirkt übrigens nur so lange als die Grossmächte sie respektieren. Wenn Joe Biden finden sollte, man benötige die über 90 eingemotteter Leopard 2-Panzer für die Ukraine, wird der Bundesrat kaum nein sagen können. Zu gross wären die Möglichkeiten der USA, der Schweiz zu schaden. Natürlich wäre das dann alles geheim.

 

Mir scheint der Vorschlag der Sicherheitskommission des Nationalrates (SIK) ein gangbarer Weg zu sein: Der Bundesrat darf Wiederausfuhren von Munition und Waffen bewilligen, wenn der Sicherheitsrat oder zwei Drittel der UNO-Staaten eine Verletzung des Gewaltverbots in der UNO-Charta feststellen. Das ist völkerrechts- und neutralitätskonform. Natürlich gibt es Experten, die das anders sehen. Doch das gibt es immer bei kontroversen Themen. Es handelt sich letztlich um eine politische Frage.

Eigentlich gibt es nur zwei saubere Lösungen für das Waffen-Dilemma der neutralen Schweiz: Entweder der Vorschlag der SiK  wird umgesetzt oder wir verzichten auf eine Rüstungsindustrie, die exportiert. Bis vor einem Jahr habe ich mich für die zweite Lösung ausgesprochen, doch der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine hat mich definitiv umgestimmt.

Erschienen in der BaZ vom 17.02.2023

Wir Boomerinnen sind dann mal weg

In sieben Jahren ist es so weit: 2029 geht der letzte Jahrgang der Boomer-Generation in Rente. Gemäss Prognosen fehlen dann etwa eine halbe Million Erwerbstätige, weil die nachfolgenden Pillenknick-Generationen weniger zahlreich sind.

Der Fachkräftemangel zeigt sich in bestimmten Berufen schon heute: es fehlen Pflegefachkräfte und Ärzte, Polizisteninnen, Handwerker und IT-Fachleute. Und das, obwohl die Bevölkerung in der Schweiz in den letzten 20 Jahren durch Zuwanderung um 20 Prozent gewachsen ist. Das Schöne an dieser Boom-Zeit ist, dass es sich viele aus der akademischen Schicht der Pillenknick-Generationen leisten können, Teilzeit zu arbeiten. Die durchschnittlich pro Woche geleistete Arbeitszeit ist in den letzten 20 Jahren von 35 auf 30 Stunden gesunken. Dies ist der Grund, warum die Produktivität pro Arbeitsplatz nicht gross gestiegen ist. Die jüngeren Generationen haben sie in mehr Freizeit und Vereinbarkeit von Familie und Beruf investiert. Das gönn ich ihnen. Doch es wird ungemütlicher werden in der Zukunft.

Bevor nun aber wieder die alte, verbissene Diskussion um die Zuwanderung neu inszeniert wird, ist festzuhalten, dass mit Migration allein unser Fachkräftemangel nicht zu lösen ist. Ganz einfach, weil in ganz Europa die demografische Lücke zunimmt. Fast alle EU-Länder werben mit höheren Löhnen darum, ihre Migrantinnen zurückzuholen. Italien plant in der Lombardei eine Sonderzone, wo die Steuern für KMU und die Mitarbeitenden gesenkt werden sollen, damit nicht mehr so viele ins Tessin pendeln. Portugal wirbt erfolgreich um seine ausgewanderten Bauarbeiter, mit Investitionen in die energetische Sanierung seiner Häuser. In den ost- und südeuropäischen Ländern haben 30% der Frauen einen IT-Abschluss (bei uns sind es 13%). Sie ermöglichen die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung. Viele Firmen werden künftig zu den Fachkräften wandern, nicht mehr umgekehrt. In Polen und Bulgarien gibt es bereits Pflegeheime, die sich auf Bewohnerinnen aus Deutschland und der Schweiz spezialisiert haben.

Zudem: wo sollen qualifizierte Einwanderer bei uns wohnen? Es gibt zu wenige Wohnungen, weil nicht dort gebaut wird, wo sie gebraucht werden – in den städtischen Zentren. Bis eine Baubewilligung alle Instanzen durchlaufen hat, dauert es oft Jahre.

Unseren demographischen Gap müssen wir also selber lösen. An erster Stelle kommt die Investition ins vorhandene Potential. Wenn 40% der ausgebildeten Pflegefachkräfte nach ein paar Jahren aussteigen, weil der Stress so hoch ist, dann muss man diesen Teufelskreis mit mit einem Impulsprogramm für mehr Stellen durchbrechen.  Auch das Lohngefüge ist zu überdenken. Warum soll man mit einem Uniabschluss so viel mehr verdienen als ohne? Wenn jene Berufe besser bezahlt werden, in denen ein Mangel herrscht, dann haben viele Junge auch einen Anreiz, solche Berufe zu lernen.  Konkret: Ohne Handwerker gelingt die Energiewende nicht, mit weniger Juristen oder Ökonominnen aber schon.

Natürlich wird auch die Forderung nach der Erhöhung des Rentenalters viel lauter werden. Ich halte sie (noch) nicht für mehrheitsfähig. Erfolgversprechender ist ein flexibles Lebensarbeitszeitmodell von etwa 45 Jahren bis zur Rente. Wer früher beginnt, weil sie eine Lehre macht, kann auch früher aufhören.

Helfen wird auch die Digitalisierung.  Zurzeit macht ChatGPT der amerikanischen Firma OpenAI Furore. Das Programm schreibt selbständig Texte in allen Fachbereichen, berechnet komplexe Aufgaben und vieles mehr. Noch ist das erst der Anfang. Die künstliche Intelligenz wird sich durchsetzen und viele Büro- und Beratungsjobs überflüssig machen.

Und wer pflegt dereinst uns Boomerinnen? Da bin ich nüchtern. Entweder wir wandern in ein Land aus, wo es noch genügend Pflegekräfte gibt, oder wir erhalten einen Pflegeroboter. Ich werde meinen Roby nennen.

Erschienen in der BaZ vom 20.01.23

Unheilige Gedanken zu Weihnachten

Morgen Abend beginnen die Weihnachtstage, das Fest der Liebe, der Familie, des Friedens. Glaubt man Umfragen, dann sind diese Tage für viele Familien aber weder friedlich noch besonders liebevoll. Der Harmoniedruck ist so hoch, dass der Kessel manchmal überkocht – auch wenn das Weihnachtsfest perfekt geplant ist.

Die Weihnachtsgeschichte ist ja auch eine Erzählung über die Flucht von Maria und Josef vor dem König Herodes, also sehr aktuell. Mal abgesehen von der jungfräulichen Empfängnis. Doch was macht unsere Noch-Justizministerin kurz vor den Festtagen? Sie stoppt die Aufnahme von ein paar hundert sehr verletzlichen Flüchtlingen aus dem Resettlement-Programm des UNO-Flüchtlingsprogramms. Ein zynisches Geschenk an ihre Nachfolgerin, die neue Bundesrätin.

Wie verlogen eine christliche Kirche auch sein kann, demonstriert seit Monaten Kyrill, der russisch-orthodoxe Patriarch.  Im Prachtsgewand, bewaffnet mit Kreuz, Stab und Weihrauch, preist er Putins kriminellen Angriff auf die Ukraine. Wahrscheinlich segnet er auch die Bomben, mit denen Putin die Infrastruktur zerstört und die Zivilbevölkerung terrorisiert. Der Preis, den die mutige ukrainische Bevölkerung für die Verteidigung ihres Landes bezahlt, ist enorm. Ebenso der Zynismus Putins, der mit seinen Bomben ganz gezielt eine weitere Fluchtwelle der Ukrainerinnen auslösen will, um die Solidarität des ‘dekadenten’ Westens zu torpedieren. Gelebte Weihnachten fanden dieses Jahr im Frühling statt, als Menschen in ganz Europa – auch in der Schweiz – Millionen von Ukrainerinnen mit ihren Kindern aufgenommen und überall geholfen haben – heute noch immer, bloss liest man davon kaum mehr etwas in den Medien.

Der Auftrag im Christentum, den Gott Adam und Eva bei der Vertreibung aus dem Paradies mitgab, lautete: «Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.» (Genesis 1:28). Dieser Auftrag hat über die Jahrhunderte eine derartig wuchtige Wirkung entfaltet, dass er heute leider als erfüllt angesehen werden muss. Allerdings mit katastrophalen Folgen: wir sind 8 Milliarden Menschen, die Artenvielfalt ist massiv geschwunden und die Klimakrise zeigt, dass die Unterwerfung der Erde enorme Kollateralschäden verursacht.

Ursprünglich waren die Anhänger Jesu eine illegale Graswurzelbewegung – übrigens stark dominiert von Frauen, denen das Barmherzigkeitsprinzip ein Anliegen war. Doch spätestens seitdem das Christentum vom römischen Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion erklärt wurde, dominierte der Machtanspruch und die Unterwerfung der Erde und ‘fremder Menschen’ immer mehr.  Mit den Jahrhunderten mutierte das Unterwerfungsgebot langsam in das Fortschrittsnarrativ, von Philipp Blom in seinem Buch ‘Die Unterwerfung’ spannend beschrieben. (Ein toller last minute Geschenktipp!) Vom Effekt her lief diese Mutation auf die Zerstörung hinaus, wie wir sie heute sehen und erleben.

Im europäischen Mittelalter bestaunten die Menschen in der Kirche die bunten Gemälde mit den Bibelszenen, magisch leuchtend im Kerzenlicht und wünschten sich wohl von oben, dass die Ernte gut werde, ihre Kinder gesund blieben und endlich mal Frieden herrsche. Heute sitzen wir vor dem Laptop, schauen die bunten Bilder auf den online-Plattformen an und drücken magisch angezogen den Kauf-Bottom mit der Illusion, dass unsere soziale Anerkennung, die Sehnsucht nach Glück und Liebe damit auch irgendwie erfüllt werde.

Im Prinzip wissen wir, dass die heutige Lebensweise so keine Zukunft hat. Wir brauchen eine neue Zukunfts-Geschichte. Statt von der Apokalypse muss sie von Kooperation, Kreativität, entschlossenem Handeln und Zuversicht erzählen, den Multikrisen zum Trotz.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen besinnliche Weihnachten und Zuversicht im neuen Jahr.  

Erschienen in der BaZ vom 20.12.22

 

Eine Rocky Horror Baudebakel-Show?

Welch eine Aufregung. Kaum ist das Biozentrum-Debakel mit einer Kostensteigerung von 100 Millionen Franken durch den PUK- Bericht politpsychologisch etwas verdaut, kommt schon die nächste Hiobsbotschaft. Regierungsrat und Universität vermelden, dass das zweite Hightech-Forschungszentrum Biomedizin neu 365 Mio. Franken kosten wird. Das sind 153 Millionen Franken oder 70% mehr, als den Parlamenten beider Basel im Jahr 2014 – als Grundlage für die beantragten Kreditsicherungsgarantien – unterbreitet worden ist.

In der Stadt werde ich zurzeit ständig darauf angesprochen und höre Kommentare wie:  «Sind da nur Stümper am Werk?». «Die da oben bauen Mist und nachher ist niemand verantwortlich», höre ich am häufigsten. «Das ist ja die reinste Rocky Horror Baudebakel-Show», meint ein Witzbold. Die Emotionen werden sich wohl wieder legen. Die Ereignisse aber nagen am Vertrauen der Bevölkerung in die Behörden und den Regierungsrat.  Dies sollte Anlass zur Sorge sein.

In meiner Zeit als Ständerätin war ich Mitglied der Finanzdelegation und habe einige Krisen des Bundes mit Grossprojekten miterlebt.  Sie alle hatten ähnliche Schwächen: Viel zu lange Projektentwicklungsphasen, Kreditvorlagen ans Parlament auf der Basis von Grobschätzungen sowie hochkomplizierte Projektorganisationen mit zu vielen Schnittstellen, besetzt mit Amtsleitern, die zu wenig Zeit hatten, weil sie das alles nebenbei noch stemmen mussten.  Die Ämterkonsultation dauerte oft mehr als ein Jahr, bis ein Dossier bei allen durchgereicht und begutachtet war.  Dazu kamen langwierige Submissionsverfahren, oft mit Einsprachen.

Beim Projekt für das neue Biomedizin-Forschungszentrum in Basel dauerte die Planungsphase sagenhafte 8 Jahre! In dieser Zeitspanne ändert sich sehr viel. Die Preise, die Zinsen, Sicherheits-Vorschriften, technologische Neuerungen, aber auch die Ansprüche an das Projekt selbst. So wurde in der Vorlage 2014 mit einer Betriebsgrösse von 500 Vollzeitstellen gerechnet mit dem Hinweis, dass ein grösseres Wachstum zwar wünschenswert sei, aber «aufgrund der angespannten Finanzlage diese Option nicht weiterverfolgt» werde (S. 7). Im neuen Bericht des Regierungsrats wird nun mit einer Betriebsgrösse für 900 Mitarbeitende gerechnet. Motto: die arbeiten ja eh alle Teilzeit.

Beim ersten Antrag an den Grossen Rat wurde offenbar mit Zahlen und Zeitschienen operiert, die auf «rudimentären Grobkostenschätzungen» beruhten, wie in der Medienmitteilung des Regierungsrates beiläufig erwähnt wird. Und dann wundert man sich, dass viele Leute das Gefühl haben, hier werde einfach mit einer Salamitaktik verschleiert, dass das Biomedizin-Zentrum effektiv viel mehr kosten wird. Das schürt Misstrauen.

Ich bin überzeugt, dass man bei solchen Projekten das Vorgehen grundsätzlich ändern sollte:

Für komplexe Grossprojekte braucht es eine ‘Projekt-Task Force’, die von Anfang an nebst verwaltungsinternen auch mit externen Spezialisten besetzt werden muss. Am Pharmastandort Basel gibt es mit Sicherheit Fachleute mit spezialisiertem Know-how und internationaler Erfahrung, auch bezüglich Hightech-Laboren. Diese Task Force erarbeitet das Projekt ganz aus und zwar möglichst zügig. Dafür spricht das Parlament einen Projektentwicklungskredit. Erst auf dieser Basis unterbreitet der Regierungsrat dem Parlament das Gesamtprojekt, in Kenntnis der effektiven Kosten, inkl. Reserven und Kostendach. Auch wenn Kreditgarantieren die Staatsrechnung in der Regel (hoffentlich auch hier) nicht belasten. So bleibt das Parlament frei, zu entscheiden, ob diese Gesamtkosten einen echten Mehrwert für die Forschung und die Volkswirtschaft darstellen. Und für die Öffentlichkeit herrscht Transparenz.

Wer mehrmals massive Kostenerhöhungen kommunizieren muss, riskiert als Kollateralschaden einen Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Behörden und die Regierung. Das wäre dann definitiv viel zu teuer.

Erschienen in der BaZ vom 25.11.22

Für die Förderung der Kinder, nicht von Familienmodellen

 

Ich traute meinen Augen kaum, als ich jüngst folgende Meldung gelesen habe: Die SVP Genf verlangt in einer kantonalen Initiative, dass Familien, die ein oder mehrere Kinder zu Hause betreuen, mit einem jährlichen Betrag von Fr. 30'000.- entschädigt werden, sofern ein Elternteil nicht erwerbstätig ist. Damit sollen alle Familienmodelle «auf die gleiche Stufe gestellt werden», lässt die Partei verlauten. Die Höhe dieser ‘Entschädigung’ entspricht mehr als der Hälfte des durchschnittlichen Mindestlohns in der Schweiz. Das macht sie für Geringverdienerinnen attraktiv. Erhalten würden sie alle Familien, auch jene mit hohen Einkommen, solange dieses nur durch einen Elternteil erworben wird. So viel zur Verteilungsgerechtigkeit des Vorschlages.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Idee eines sog. «Hausfrauenlohns» in der feministischen Frauenbewegung der 80er Jahre entstand. Nun ist sie also in der konservativen Ecke gelandet. Modern geschlechtsneutral formuliert, will sie aber genau das gleiche. Wir hatten uns damals heftig gestritten über diese Forderung der sog. feministischen Mütterbewegung. Durchgesetzt hat sie sich zum Glück nirgends.  Die finanzielle Abhängigkeit von einem Mann -wie das damals die meisten Frauen waren – einfach durch den Staat zu ersetzen, widerspricht diametral der Vorstellung von Emanzipation und Gleichberechtigung.

Mehr als 30 Jahre später hat sich zwar einiges verbessert, aber nur in eine Richtung. Heute sind über 80 Prozent der Mütter erwerbstätig, mehr als die Hälfte davon über 50 Prozent. Erstaunlich wenig hat sich aber bei den Vätern getan: Nur etwa 15% arbeiten Teilzeit. Ihr «Ernährer-Status» scheint ungebrochen tief verankert zu sein. Dabei hat auch der männliche Rollenzwang gravierende Auswirkungen. Ich habe in meinem Berufsleben einige Männer erlebt, die unter diesem Rollenkorsett gelitten haben. Gefangen in Jobs, in denen sie längst unglücklich waren, mussten sie ausharren, weil die Kinder noch jung waren und die Partnerin ihr Minipensum kaum aufstocken konnte oder wollte.

Die Vereinbarkeitsfrage von Beruf und Familie ist einer der Knackpunkte bei der Gleichberechtigung. Dies kann man nicht mit einem staatlichen Hausfrauenlohn – egal ob feministisch oder konservativ begründet – lösen. Doch solange wir die Vereinbarkeitsfrage immer einseitig als Frauenfrage diskutieren, wird sich wenig an der Verteilung der Care-Arbeit ändern. Auch geschlechterkampfartige Debatten, wie anlässlich der letzten AHV-Abstimmung, bringen uns da nicht weiter.

Unsere Gesellschaft muss den Schwerpunkt vielmehr auf die Förderung der Kinder legen. Die Tessiner hatten dies schon vor Jahrzehnten begriffen, als sie ihre Frühförderangebote entwickelt haben. Dort geht fast jedes Kind ab drei Jahren in die scuola infanza, die Teil der Volksschulbildung ist. Im Rest der Schweiz sind die Kitas sehr teuer, falls es überhaupt genug Plätze gibt, und Tagesschulen sind über den Status von Einzelangeboten kaum herausgekommen.

Die konsequente Frühförderung ist für Kinder aber matchentscheidend. In den ersten Jahren wird entschieden, ob die weitere Bildungslaufbahn gelingt. Eine Gesellschaft kann es nicht dem Zufall überlassen, ob Kinder echte Förderung in ihrer Entwicklung bekommen oder nicht, je nachdem in welche Familienverhältnisse sie geboren werden. Viele Kinder sind Einzelkinder, sie brauchen den sozialen Austausch mit anderen. Nicht wenige sprechen zuhause nicht deutsch, in der Schule finden sie dann kaum mehr Anschluss. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, die auch mal Abstand von ihren überbesorgten «Helikoptereltern» benötigen.

Die Chancengleichheit von Kindern wird in den ersten Lebensjahren entschieden. Ihre Förderung muss uns sehr viel mehr Wert sein – ganz unabhängig von Vereinbarkeitsfragen, Fachkräftemangel, unterschiedlichen Familienmodellen und veralteten Rollenvorstellungen.

Erschienen in der BaZ vom 28.10.2022

Den kühlen Kopf bewahren, trotz Putins Drohungen

 

 

Als Putin letzte Woche seine Drohrede gegen den Westen schleuderte, hatte ich ein Déjà vu. Die latente Angst, einem möglichen Atomschlag ausgeliefert zu sein, kenne ich noch aus den Zeiten des kalten Krieges. Es ist ein mulmiges Magengefühl. Dann schaltet sich aber der kühle Kopf ein und ich konzentriere mich auf die rationale Ebene. Denn es gibt einige Gründe gegen einen solchen Angriff. Mit der wiederholten Nuklear-Drohung soll die Einheit des Westens in der Unterstützung der Ukraine gebrochen werden.

Der Einsatz von Atomwaffen ist seit der verheerenden Bombe auf Hiroshima international ein Tabu. Wer dieses real durchbrechen würde, wird zum Paria-Staat. Dies könnte Putin selber noch egal sein. Nicht egal ist es jedoch seinen potenziellen Verbündeten China, Indien, Türkei sowie weiteren Staaten in Afrika und Asien.  Da helfen ihm auch nicht die völkerrechtswidrigen Scheinreferenden in den besetzten Gebieten der Ostukraine.  Alle Welt weiss, dass Putin sie als Vorwand braucht, um den Verteidigungskrieg der Ukrainer um ihre Heimat zum Angriffskrieg gegen Russland umzudeuten. Diese Drohung richtet sich nicht nur an die tapfer und erfolgreich kämpfenden Ukrainern, sondern mit ihr soll auch die westliche Bevölkerung noch stärker verunsichert werden.

Wenn Putin sich mit seinen imperialen Grossmachtambitionen durchsetzen könnte, dann gute Nacht Europa. Wir hätten in Osteuropa dauerhaft kriegerische Konflikte, welche als erstes Moldawien, die Baltikum-Staaten und weitere osteuropäische Länder bedrohen würden. Da dürfen wir uns keine Illusionen machen. Auch darum müssen wir die Ukraine mit allem, was nötig ist, unterstützen. Doch gehört dazu auch ein Asyl für russische Deserteure?

Ich lese gerade das Buch «Im Rausch» von Arkadi Babtschenko über die Kriege Russlands. Der Autor kämpfte selber als russischer Soldat in den beiden Tschetschenien-Kriegen.  Heute lebt er in der Ukraine im Exil.  Die beschriebenen Zustände in der russischen Armee sind grauenhaft: die jungen Rekruten werden schikaniert, gedemütigt, bestohlen, verprügelt, und nicht genügen ernährt, der reinste Kasernensadismus. Im Ernstfall sind die eigenen Soldaten reines Kanonenfutter. Kein Wunder, findet seit der Teilmobilisierung ein Exodus junger Männer aus Russland statt.

Völkerrechtlich hat jeder Staat das Recht, die eigenen Staatsbürger zum Kriegsdienst einzuziehen. Eine Verweigerung ist nicht automatisch ein Asylgrund. In Europa wurden Millionen Ukrainerinnen mit ihren Kindern als Flüchtlinge aufgenommen. Vermutlich werden noch mehr fliehen müssen, wenn der Krieg weiter eskaliert. Sollen diese dann mit desertierten Russen in denselben Flüchtlingsunterkünften leben, zusammen mit den Angehörigen jenes Staates, dessen Soldaten ihre Angehörigen und Freundinnen vergewaltigt, gefoltert oder getötet haben? Ich kann mir das schlicht nicht vorstellen – auch nicht mit kühlem Kopf.

Dieser Krieg wird Europa noch sehr lange beschäftigen, auch wenn es zu einem Waffenstillstand kommt. Die Kollateralschäden sind jetzt schon gross. Allein die milliardenschweren Aufrüstungen in allen Ländern werden den Wohlstand minimieren. Dazu kommen die Auswirkungen der Sanktionen. Gefährlich ist auch die Instrumentalisierung des Krieges durch rechte Parteien im Westen, welche alle eine Affinität zum Autoritarismus haben. Die hohen Energiepreise, die Inflation, oder gar eine Energiemangellage – dies alles nagt am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.  Soeben hat Italien ein Rechtsbündnis gewählt, das beste Beziehungen zu Putin unterhält. Auch in Schweden hat die extreme Rechte massiv zugelegt. In Deutschland schürt die AfD gezielt diese Unsicherheiten und in der Schweiz wird Köppels «Weltwoche» immer mehr zu einem Propagandablatt für Putin, im Gleichschritt mit Orban, le Pen und Serbiens Vucic.

Es sind wirklich schwere Zeiten. Umso wichtiger ist, dabei den kühlen Kopf zu bewahren.

Erschienen in der BaZ vom 30.09.22

Krisen im Multipack – und was wir dagegen tun können

Erinnern Sie sich noch an den Juni vor einem Jahr? Damals wurde das CO2-Gesetz in der Volksabstimmung abgelehnt. Die Aussicht auf höhere Benzinpreise gab ihm den Todesstoss. Und heute? Kaum jemand hat vorausgesehen, in welchem Tempo die Energiepreise steigen, und zwar um ein Mehrfaches als mit dem CO2-Gesetz.

Dieser Sommer hat die Illusion, dass wir einfach so weitermachen können, definitiv zerstört. Die Rekordhitze hat vielerorts Dürre, Waldbrände, Starkregen mit Überschwemmungen, niedrige Pegelstände in Flüssen und Seen und eine noch schnellere Gletscherschmelze verursacht. Der Klimawandel ist mit Wucht zur akuten Klimakrise geworden. Hinzu kommt der Überfall von Russland auf die Ukraine. Putin benutzt Gas als Waffe gegen Europa, um die Unterstützung der Ukraine zu torpedieren.  Auch Corona ist noch nicht überstanden. Der harte Lockdown in China führt weiterhin zu Lieferengpässen.

In der Krisenforschung wird zwischen drei verschiedenen Katastrophenformen unterschieden: «graue Nashörner» sind absehbare Krisen, die man mit Voraussicht bewältigen kann – wie der Klimawandel. Das Problem dabei: wir Menschen sind gar nicht gut im Vorbeugen, aber Weltmeister im Verdrängen. Deshalb werden «graue Nashörner» oft zu «schwarzen Schwänen». Damit gemeint sind plötzlich auftretende Katastrophen, die man kaum voraussehen kann. Dazu gehören Naturkatastrophen, aber auch unerwartete Grossereignisse wie der russische Angriffskrieg. Im Nachhinein wissen es dann alle besser. Kommen mehrere Krisen zusammen wie jetzt, also Pandemie und Krieg sowie ein Gas- und Strommangel kombiniert mit Inflation, dann spricht die Krisenforschung von «Drachenkönigen». Dies betrifft Katastrophen, die parallel auftauchen, sich gegenseitig verstärken und darum enorme Schäden auslösen.

Entscheidend ist, wie eine Gesellschaft mit «Drachenkönigs-Krisen» umgeht, damit der Schaden geringer gehalten werden kann. Die Frage ist also: wie krisenresilient ist die Schweiz, angesichts der potenziellen Mangellage, der Preisexplosion für Energie, der Verpflichtung bis 2050 CO2-neutral zu sein und dem zunehmenden Wassermangel?

Zurzeit befinden wir uns noch in der Phase der Schuldzuweisungen – auch dies ist typisch für eine Krise. Die SVP pinkelt der Umweltministerin ans Bein, Rot-Grün macht die Bürgerlichen für die Mangellage verantwortlich, und die NZZ kritisiert die Ex-Bundesrätin für ihre Energiestrategie 2050, die notabene vom Volk deutlich angenommen wurde. Naturschützerinnen definieren überall rote Linien und AKW-Nostalgiker verdrängen, dass die Entsorgung seit Jahrzehnten ungelöst ist.

Vergangenheitsbewältigung bringt aber in einer Krisensituation rein gar nichts, ebenso wenig wie Panik. Jetzt geht es darum, pragmatisch durch die Krise zu kommen, die wohl länger als einen Winter dauern wird. Dabei darf der definitive Ausstieg aus den Fossilen nicht aus den Augen verloren gehen. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz haben kürzlich den dafür notwendigen Masterplan vorgelegt. Er ist ehrgeizig, aber machbar.

Statt Konfrontation und Polarisierung ist jetzt Kooperation gefragt. Immerhin zeichnet sich in Bern hinter den Kulissen ein politischer Kompromiss ab, der die am runden Tisch definierten fünfzehn Projekte zur Aufstockung der Wasserkraft mehrheitsfähig machen könnte. Endlich ist auch Sparen angesagt. Jedes Grad weniger Heizen bringt eine Einsparung von 6 Prozent! Die hohen Energie- Preise sind dafür wohl Anreiz genug. Sie werden so schnell nicht sinken. Damit das alle durchhalten können, müssen die unteren Einkommen zwingend entlastet werden – aber nur diese.

Ob wir das schaffen? Wir müssen. Das Gute an einer «Drachenkönigs-Krise» ist, dass sie allen die Dringlichkeit des Handelns vor Augen führt. Soeben hat die Umwelt-Kommission des Ständerats die Solar-Offensive in den Alpen aufgegleist, eine Voraussetzung für erneuerbaren Winterstrom. Weiter so, endlich mit Tempo.

 

Erschienen in der BaZ vom 02.09.2022

 

 

Altes Denken in neuen Kleidern

Der Empörungssturm über den Abbruch eines Konzertes in einer Berner Brasserie ist gross. Stein des Anstosses sind die Rastalocken weisser Musiker wegen ‘kultureller Aneignung’.   Spontan dachte ich: muss denn jede Modererscheinung aus den USA zu uns schwappen? Das Gute daran ist, nun weiss die halbe Schweiz, dass Rastalocken ein Ausdruck des Protests gegen die Unterdrückung der Schwarzen durch Weisse sind. Historisch noch etwas mehr Bewanderte wissen, dass diese Filzlocken auch in der Geschichte Europas vorkommen und es diese auch im hinduistischen und islamischen Kulturraum gibt. Nicht überliefert ist, wer da wen kulturell inspiriert hat (oder muss man jetzt enteignet sagen?).

Warum ist die Empörung so gross?  Ich vermute mal, viele fühlten sich «unwohl» beim Gedanken, die  Denk- und Sprach-Vorschriften im Konzept der ‘kulturellen Aneignung’ könnten auch bei uns Schule machen. In Kurzform erklärt: keine weisse Person darf sich mit Symbolen aus Kulturen von unterdrückten Gruppen schmücken.  Als ob es ‘reine’ Kulturen je gegeben hätte. In der ganzen Menschheitsgeschichte und überall auf der Welt haben sich Kulturen gegenseitig inspiriert, vermischt und kreativ weiterentwickelt. Richtig ist, dass man sich mit dem Hintergrund verschiedener Kulturen respektvoll auseinandersetzen soll. Auftritts-Verbote jedoch sind kontraproduktiv. Ist irgendeiner schwarzen Person geholfen, wenn Weisse keine Rastalocken tragen? Sinnvoller wäre, wenn man unsere Ethnologie- und Völkerkundemuseen danach durchforsten würde, ob es dort Kulturobjekte aus Missionsreisen im 19. Jahrhundert gibt, die zurückzugeben sind. Das wäre konkrete Solidarität.  Doch dafür muss man sich aktiv engagieren. Da genügt es nicht, sich «unwohl» zu fühlen.

Die Idee der ‘kulturellen Aneignung’ in ihrer fundamentalistischen Form ist Teil der in den USA und in Europa – v.a. in Deutschland, England und Frankreich – im akademischen Milieu grassierenden Identitätspolitik. Sie erklärt – verkürzt gesagt – alle Diskriminierungen aufgrund persönlicher Merkmale wie Herkunft, Geschlecht, Ethnie und kultureller Zugehörigkeit. Daraus wird dann eine Opferhierarchie gebastelt. Es ist ein Rückfall in altes Schubladendenken. Es teilt die Menschen wieder nach äusserlichen Merkmalen ein und determiniert sie auf ihr Anderssein. In dieser Denkweise kann ein weisser Sozialhilfempfänger kein diskriminiertes Opfer sein, eine schwarze Hochschuldozentin jedoch schon, denn sie hat ja Sklaven unter ihren Vorfahren.  Wer das kritisiert, wird mit dem Killersatz abserviert, man verteidige ja nur seine weissen Privilegien. Dabei riecht Identitätspolitik penetrant nach rechtem Ethnopluralismus, der kulturell reine Völker in ihren eigenen Staaten will und sich gegen eine Gesellschaft der Vielfalt richtet. Propagiert wird das von der rechtsextremen «Identitären Bewegung» und es entspricht der Strategie aller rechtsextremen Parteien in Europa.

Dies ist das pure Gegenteil von dem, was eine fortschrittliche Gesellschaftsvorstellung will. Sie ist universalistisch, stellt die Menschenrechte sowie die soziale und ökologische Frage ins Zentrum ihrer Politik. Es sollen alle gleichberechtigt sein, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung.   Dass dies alles noch nicht ganz verwirklicht ist, ist eine Tatsache. Aber da hilft Identitätspolitik nicht weiter – im Gegenteil. Sie ist ein Rückfall in altes Denken, bloss in neuen Kleidern.

Es wird noch lange dauern, bis Diskriminierung und Rassismus in jeder Form der Vergangenheit angehört.  Dafür ist Wokeness (Achtsamkeit) gut und recht, sollte aber nicht das Denken in gesellschaftlichen und historischen Zusammenhängen ersetzen.  Die Überbetonung kultureller Differenzen war und bleibt das Agitationsfeld der Rechten. Rigide Kultur- Vorschriften haben eine Gesellschaft nie verbessert, kultureller Austausch, Respekt und Toleranz schon eher.

Erschienen in der BaZ vom 05.08.2022

Abtreibung: Die brutale Stellvertreterschlacht

Das Urteil des Obersten Gerichtshof der USA hat weltweit Protest ausgelöst, auch in der Schweiz. Warum eigentlich? Die Fristenlösung ist bei uns nach einem jahrzehntelangen Kampf mehrerer Frauengenerationen seit 20 Jahren solide gesetzlich verankert.  Mehrere Initiative dagegen aus rechtskonservativen Kreisen, haben daran nichts ändern können.

Doch der Entscheid des Obersten US-Gerichtes hat eine brutale Sprengkraft in vielerlei Hinsicht. Das Urteil ist ein infamer Eingriff in die körperliche und psychische Integrität von Frauen, ein Angriff auf ihr Selbstbestimmungsrecht und ihre Würde, denn es degradiert den weiblichen Körper zur Gebärmaschine.

Dass es dabei nur vordergründig um den Schutz von Leben geht, hat dasselbe Gericht mit seinem Urteil gegen das New Yorker Waffengesetz selbst demonstriert. Es gewichtet das Recht auf Waffen höher als den Schutz von Schulkindern davor, getötet zu werden. Ja, so verlogen und zynisch können auch Richter sein.

Ein Verbot hat weder früher noch heute je eine Abtreibung verhindert. Frauen, die sich dazu entschliessen, haben Gründe, die so stark sind, dass kein Verbot sie daran hindern wird. Der Unterschied ist einfach, dass man sie bei einem Verbot in «Hinterhof-Behandlungen» zwingt, die ihre Gesundheit ruinieren, wenn sie denn die Prozedur überleben.

Warum also dieser erbitterte Kampf gegen die Abtreibung? Es ist eine brutale Stellvertreterschlacht, in der es um Religion, Macht und Kontrolle geht, nicht um das ungeborene Leben.

Das hat der erzkatholische und stockreaktionäre Richter Clarence Thomas klar gemacht, als er die weiteren Schritte auf dem Weg zu einem autoritären Gottesstaat verkündet hat: Als nächstes soll das Recht auf Verhütung, auf die Ehe für alle und auf Homosexualität vom Obersten Gericht angegriffen werden. Seine Frau ist nicht zufällig Aktivistin im Trump-Club. Dabei sind sich die katholischen und evangelikalen Fundamentalisten mit den unterdessen rechtsradikalen Republikanern einig, denn es geht um die totale Macht.

Texas ist Vorreiter dieser Brutalo-Strategie: Abtreibungen sind verboten und alle Bürger erhalten eine finanzielle Entschädigung, wenn sie Ärztinnen, Verkäufer von der «Pille danach», Spitäler oder Pharmafirmen, die Hilfe vermitteln, denunzieren. Die Behörden dürfen auf Kreditkarten, Telefonlisten etc. von Frauen zugreifen, um nachzuweisen, ob sie in einem anderen Bundesstaat medizinische Unterstützung für eine Abtreibung erhalten haben. Kontrolle total.

Dieser Angriff auf Frauen ist eingebettet in seit Jahrzehnten geknüpfte Netzwerke rechtsextremer und rassistischer Organisationen, die alle bestens vernetzt sind, finanziert von milliardenschweren rechten Stiftungen, Thinktanks, Medienplattformen und der republikanischen Partei. Sie alle gehen seit dem Sturm aufs Capitol aufs Ganze, um aus der US-Demokratie eine autoritäre, protofaschistische «Demokratie» zu machen. Es gibt da zwar noch Wahlen, doch die Gewinner höhlen systematisch die Gewaltenteilung und den Rechtsstaat aus, Justiz und Medien werden gleichgeschaltet. Die regierende Partei hat die totale Macht. Die Opposition gilt als Landesverräterin. Die Strategie: keine Kompromisse und maximale Polarisierung.  Dafür ist das Thema Abtreibung das ideale Feld.

Darum aufgepasst: Auch in der Schweiz sind reaktionäre Kräfte wieder am Planen von zwei Initiativen zur Einschränkung der Fristenlösung.

Die Abtreibungsfrage zeigt aber auch, dass es nicht nur gefühlte, sondern auch zwei biologische Geschlechter gibt. Schwanger werden können immer noch nur biologische Frauen. Die in den USA von Progressiven erbittert geführten Kämpfe um die Definitionsmacht von Identitätspolitik und die Cancel- Attacken sind dabei kontraproduktiv.  Wenn die heute rechtsradikalen Republikaner durchmarschieren, dann können alle Progressiven – egal welcher Identität – einpacken.

Erschienen in der BaZ vom 08.07.22