Den kühlen Kopf bewahren, trotz Putins Drohungen

 

 

Als Putin letzte Woche seine Drohrede gegen den Westen schleuderte, hatte ich ein Déjà vu. Die latente Angst, einem möglichen Atomschlag ausgeliefert zu sein, kenne ich noch aus den Zeiten des kalten Krieges. Es ist ein mulmiges Magengefühl. Dann schaltet sich aber der kühle Kopf ein und ich konzentriere mich auf die rationale Ebene. Denn es gibt einige Gründe gegen einen solchen Angriff. Mit der wiederholten Nuklear-Drohung soll die Einheit des Westens in der Unterstützung der Ukraine gebrochen werden.

Der Einsatz von Atomwaffen ist seit der verheerenden Bombe auf Hiroshima international ein Tabu. Wer dieses real durchbrechen würde, wird zum Paria-Staat. Dies könnte Putin selber noch egal sein. Nicht egal ist es jedoch seinen potenziellen Verbündeten China, Indien, Türkei sowie weiteren Staaten in Afrika und Asien.  Da helfen ihm auch nicht die völkerrechtswidrigen Scheinreferenden in den besetzten Gebieten der Ostukraine.  Alle Welt weiss, dass Putin sie als Vorwand braucht, um den Verteidigungskrieg der Ukrainer um ihre Heimat zum Angriffskrieg gegen Russland umzudeuten. Diese Drohung richtet sich nicht nur an die tapfer und erfolgreich kämpfenden Ukrainern, sondern mit ihr soll auch die westliche Bevölkerung noch stärker verunsichert werden.

Wenn Putin sich mit seinen imperialen Grossmachtambitionen durchsetzen könnte, dann gute Nacht Europa. Wir hätten in Osteuropa dauerhaft kriegerische Konflikte, welche als erstes Moldawien, die Baltikum-Staaten und weitere osteuropäische Länder bedrohen würden. Da dürfen wir uns keine Illusionen machen. Auch darum müssen wir die Ukraine mit allem, was nötig ist, unterstützen. Doch gehört dazu auch ein Asyl für russische Deserteure?

Ich lese gerade das Buch «Im Rausch» von Arkadi Babtschenko über die Kriege Russlands. Der Autor kämpfte selber als russischer Soldat in den beiden Tschetschenien-Kriegen.  Heute lebt er in der Ukraine im Exil.  Die beschriebenen Zustände in der russischen Armee sind grauenhaft: die jungen Rekruten werden schikaniert, gedemütigt, bestohlen, verprügelt, und nicht genügen ernährt, der reinste Kasernensadismus. Im Ernstfall sind die eigenen Soldaten reines Kanonenfutter. Kein Wunder, findet seit der Teilmobilisierung ein Exodus junger Männer aus Russland statt.

Völkerrechtlich hat jeder Staat das Recht, die eigenen Staatsbürger zum Kriegsdienst einzuziehen. Eine Verweigerung ist nicht automatisch ein Asylgrund. In Europa wurden Millionen Ukrainerinnen mit ihren Kindern als Flüchtlinge aufgenommen. Vermutlich werden noch mehr fliehen müssen, wenn der Krieg weiter eskaliert. Sollen diese dann mit desertierten Russen in denselben Flüchtlingsunterkünften leben, zusammen mit den Angehörigen jenes Staates, dessen Soldaten ihre Angehörigen und Freundinnen vergewaltigt, gefoltert oder getötet haben? Ich kann mir das schlicht nicht vorstellen – auch nicht mit kühlem Kopf.

Dieser Krieg wird Europa noch sehr lange beschäftigen, auch wenn es zu einem Waffenstillstand kommt. Die Kollateralschäden sind jetzt schon gross. Allein die milliardenschweren Aufrüstungen in allen Ländern werden den Wohlstand minimieren. Dazu kommen die Auswirkungen der Sanktionen. Gefährlich ist auch die Instrumentalisierung des Krieges durch rechte Parteien im Westen, welche alle eine Affinität zum Autoritarismus haben. Die hohen Energiepreise, die Inflation, oder gar eine Energiemangellage – dies alles nagt am Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung.  Soeben hat Italien ein Rechtsbündnis gewählt, das beste Beziehungen zu Putin unterhält. Auch in Schweden hat die extreme Rechte massiv zugelegt. In Deutschland schürt die AfD gezielt diese Unsicherheiten und in der Schweiz wird Köppels «Weltwoche» immer mehr zu einem Propagandablatt für Putin, im Gleichschritt mit Orban, le Pen und Serbiens Vucic.

Es sind wirklich schwere Zeiten. Umso wichtiger ist, dabei den kühlen Kopf zu bewahren.

Erschienen in der BaZ vom 30.09.22