Ich traute meinen Augen kaum, als ich jüngst folgende Meldung gelesen habe: Die SVP Genf verlangt in einer kantonalen Initiative, dass Familien, die ein oder mehrere Kinder zu Hause betreuen, mit einem jährlichen Betrag von Fr. 30'000.- entschädigt werden, sofern ein Elternteil nicht erwerbstätig ist. Damit sollen alle Familienmodelle «auf die gleiche Stufe gestellt werden», lässt die Partei verlauten. Die Höhe dieser ‘Entschädigung’ entspricht mehr als der Hälfte des durchschnittlichen Mindestlohns in der Schweiz. Das macht sie für Geringverdienerinnen attraktiv. Erhalten würden sie alle Familien, auch jene mit hohen Einkommen, solange dieses nur durch einen Elternteil erworben wird. So viel zur Verteilungsgerechtigkeit des Vorschlages.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Idee eines sog. «Hausfrauenlohns» in der feministischen Frauenbewegung der 80er Jahre entstand. Nun ist sie also in der konservativen Ecke gelandet. Modern geschlechtsneutral formuliert, will sie aber genau das gleiche. Wir hatten uns damals heftig gestritten über diese Forderung der sog. feministischen Mütterbewegung. Durchgesetzt hat sie sich zum Glück nirgends. Die finanzielle Abhängigkeit von einem Mann -wie das damals die meisten Frauen waren – einfach durch den Staat zu ersetzen, widerspricht diametral der Vorstellung von Emanzipation und Gleichberechtigung.
Mehr als 30 Jahre später hat sich zwar einiges verbessert, aber nur in eine Richtung. Heute sind über 80 Prozent der Mütter erwerbstätig, mehr als die Hälfte davon über 50 Prozent. Erstaunlich wenig hat sich aber bei den Vätern getan: Nur etwa 15% arbeiten Teilzeit. Ihr «Ernährer-Status» scheint ungebrochen tief verankert zu sein. Dabei hat auch der männliche Rollenzwang gravierende Auswirkungen. Ich habe in meinem Berufsleben einige Männer erlebt, die unter diesem Rollenkorsett gelitten haben. Gefangen in Jobs, in denen sie längst unglücklich waren, mussten sie ausharren, weil die Kinder noch jung waren und die Partnerin ihr Minipensum kaum aufstocken konnte oder wollte.
Die Vereinbarkeitsfrage von Beruf und Familie ist einer der Knackpunkte bei der Gleichberechtigung. Dies kann man nicht mit einem staatlichen Hausfrauenlohn – egal ob feministisch oder konservativ begründet – lösen. Doch solange wir die Vereinbarkeitsfrage immer einseitig als Frauenfrage diskutieren, wird sich wenig an der Verteilung der Care-Arbeit ändern. Auch geschlechterkampfartige Debatten, wie anlässlich der letzten AHV-Abstimmung, bringen uns da nicht weiter.
Unsere Gesellschaft muss den Schwerpunkt vielmehr auf die Förderung der Kinder legen. Die Tessiner hatten dies schon vor Jahrzehnten begriffen, als sie ihre Frühförderangebote entwickelt haben. Dort geht fast jedes Kind ab drei Jahren in die scuola infanza, die Teil der Volksschulbildung ist. Im Rest der Schweiz sind die Kitas sehr teuer, falls es überhaupt genug Plätze gibt, und Tagesschulen sind über den Status von Einzelangeboten kaum herausgekommen.
Die konsequente Frühförderung ist für Kinder aber matchentscheidend. In den ersten Jahren wird entschieden, ob die weitere Bildungslaufbahn gelingt. Eine Gesellschaft kann es nicht dem Zufall überlassen, ob Kinder echte Förderung in ihrer Entwicklung bekommen oder nicht, je nachdem in welche Familienverhältnisse sie geboren werden. Viele Kinder sind Einzelkinder, sie brauchen den sozialen Austausch mit anderen. Nicht wenige sprechen zuhause nicht deutsch, in der Schule finden sie dann kaum mehr Anschluss. Auf der anderen Seite gibt es Kinder, die auch mal Abstand von ihren überbesorgten «Helikoptereltern» benötigen.
Die Chancengleichheit von Kindern wird in den ersten Lebensjahren entschieden. Ihre Förderung muss uns sehr viel mehr Wert sein – ganz unabhängig von Vereinbarkeitsfragen, Fachkräftemangel, unterschiedlichen Familienmodellen und veralteten Rollenvorstellungen.
Erschienen in der BaZ vom 28.10.2022