Am 24. Februar jährt sich der Überfall Putins auf die Ukraine. Das Leben der Menschen dort ist ein Horror. Es drückt mir das Herz zu, wenn ich das fortgesetzte Grauen sehe. Ich habe mich mein halbes Leben lang für Frieden und Abrüstung engagiert. Aber jetzt?
Auf Bundesebene läuft zurzeit ein politisches Tauziehen um die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Schweiz zulassen soll, dass Länder, die hier Waffen und Munition gekauft haben, diese nicht doch an die Ukraine liefern dürfen. Bis jetzt hat der Bundesrat die Anfragen von Deutschland, Dänemark und Spanien abgelehnt.
Putin führt einen direkten Krieg gegen die Zivilbevölkerung, indem er systematisch zivile Infrastrukturen bombardieren lässt. Ziel ist, dass die Menschen ihre Wohnungen verlieren, frieren, im Dunkeln sitzen und hungern müssen. Dabei ist humanitäre Hilfe sehr wichtig, entscheidend ist aber auch, dass die Ukraine ihr Territorium militärisch verteidigen kann. Dazu braucht es nun mal Waffen und Munition. Gerade diese fehlt immer mehr. Unsere «guten Dienste» brauchen zwei Seiten, die Friedensverhandlungen wollen. Doch Putin will die Ukraine zerstören, koste es, was es wolle.
In einer Umfrage vom Januar befürworten 55% der Schweizer Bevölkerung die Weitergabe von Schweizer Waffen, die von europäischen Ländern gekauft wurden. Doch unsere «bewaffnete Neutralität» verbiete einseitige Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Stimmt das wirklich?
Ein Blick zurück zeigt, dass die Neutralität vom Bundesrat oft sehr flexibel interpretiert wurde. Im 2. Weltkrieg lieferte die Schweiz nicht nur Waffen an die Nazis, sondern gab ihnen auch noch staatliche Kredite zur Finanzierung des Krieges und organisierte den Rohstoff-Transport von Deutschland durch den Gotthard nach Italien. Wenn man von Feinden umzingelt ist, dann ist Flexibilität nachvollziehbar. Den Preis dafür zahlte die Schweiz nach dem Krieg. Mehr als 400 Millionen Franken verlangte die USA als Abfindung für diese ‘Flexibilität’, damals ein Riesenbetrag.
Wenige Jahre später zwang Washington im kalten Krieg dem Bundesrat einen Geheimvertag (damit der Bundesrat das Gesicht wahren konnte) auf, der die Schweiz verpflichtete, das Technologie-Embargo gegen die Sowjetunion einzuhalten. Er galt bis 1993. Auch der vor drei Jahren aufgeflogene Crypto-Skandal, bei dem Chiffriergeräte in der Schweiz produziert und in alle Welt verkauft wurden, auf die der der CIA Zugriff hatte, war alles andere als neutralitätskompatibel. Kurz: die Schweiz hat ihre Neutralität immer flexibel interpretiert, darum war sie auch so erfolgreich.
Kann die Schweiz neutral bleiben, wenn wir sehen, wie die Ukraine zerbombt wird? Das würde heissen, indirekt unterstützten wir Russland. Neutralität wirkt übrigens nur so lange als die Grossmächte sie respektieren. Wenn Joe Biden finden sollte, man benötige die über 90 eingemotteter Leopard 2-Panzer für die Ukraine, wird der Bundesrat kaum nein sagen können. Zu gross wären die Möglichkeiten der USA, der Schweiz zu schaden. Natürlich wäre das dann alles geheim.
Mir scheint der Vorschlag der Sicherheitskommission des Nationalrates (SIK) ein gangbarer Weg zu sein: Der Bundesrat darf Wiederausfuhren von Munition und Waffen bewilligen, wenn der Sicherheitsrat oder zwei Drittel der UNO-Staaten eine Verletzung des Gewaltverbots in der UNO-Charta feststellen. Das ist völkerrechts- und neutralitätskonform. Natürlich gibt es Experten, die das anders sehen. Doch das gibt es immer bei kontroversen Themen. Es handelt sich letztlich um eine politische Frage.
Eigentlich gibt es nur zwei saubere Lösungen für das Waffen-Dilemma der neutralen Schweiz: Entweder der Vorschlag der SiK wird umgesetzt oder wir verzichten auf eine Rüstungsindustrie, die exportiert. Bis vor einem Jahr habe ich mich für die zweite Lösung ausgesprochen, doch der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine hat mich definitiv umgestimmt.
Erschienen in der BaZ vom 17.02.2023